Januar 1912: Stichwahlen bei den Reichstagswahlen

Der Wahlkommissar Stegemann gab in Halberstadt am 26. Januar 1912 das Endergebnis der Stichwahlen zu den Reichstagswahlen für den gesamten Wahlkreis bekannt: Die Zahl der abgegebenen Stimmen beträgt 37.827. Davon sind als ungültig in Abzug zu bringen: 431 Stimmen, sodaß als gültige Stimmen in Anrechnung kommen: 37.396 Stimmen. Die absolute Mehrheit beträgt demnach 18.699 Stimmen. Es haben erhalten: Rittergutsbesitzer, Oekonomierat Rimpau – Emersleben: 18.483 Stimmen. Gewerkschaftsbeamter Alwin Brandes – Magdeburg: 18.913 Stimmen. Der Gewerkschaftsbeamte Alwin Brandes in Magdeburg ist daher in dem Wahlkreis Oschersleben-Halberstadt-Wernigerode als Abgeordneter zum Deutschen Reichstage gewählt. Was sich in den Wahlen zuvor andeutete – in der Stadt Wernigerode waren die Sozialdemokraten seit geraumer Zeit bei den Reichstagswahlen sehr erfolgreich – setzte sich nun im ländlichen Bereich fort: Auch hier gewann die SPD eine bedeutende Anzahl Stimmen hinzu. Es wurde kolportiert, dass der Wernigeröder Wahlleiter nach der Wahl vermelden musste: “Die schwarze Grafschaft ist rot.”

Die SPD vor und während des 1. Weltkrieges

Zum Zustand der SPD kurz vor dem 1. Weltkrieg ist folgendes Dokument interessant: Ein Schreiben der Polizeiverwaltung “An den Herrn Landrat” vom 13. September 1913 blickte auf das Jahr 1912 zurück: Nach der im Januar 1912 stattgehabten Reichstagswahl haben die sozialdemokratische Partei sowie die gewerkschaftlichen Vereine ihre Versammlungen abgehalten. Bei grösseren politischen Fragen sind öffentliche Versammlungen einberufen, die meist gut besucht waren und in denen fast immer von auswärtigen Referenten die fr. Punkte im sozialdemokratischen Sinne erörtert wurden. Vor der Reichstagswahl waren die Versammlungen stets stark besucht. … An der Landtagswahl hat sich die sozialdemokratische Partei hier ebenfalls rege beteiligt, jedoch ist zur Wahl eine besonders bemerkbare Agitation nicht betrieben. Ferner ist von derselben in den umliegenden Ortschaften agitiert, um die Landarbeiter gewerkschaftlich zu organisieren. Zu diesem Zwecke ist dort, neben dem sozialdemokratischen Kalender, ein sozialdemokratisches Blatt – die Landpost – verbreitet worden. Wie in den Vorjahren hat im Jahre 1912 ein Gewerkschaftsfest, verbunden mit Kinderbelustigungen, stattgefunden. Von der Sozialdemokratie ist auch versucht worden, die Jugend durch Veranstaltungen von Festlichkeiten und allerlei Belustigungen, wie Fussballspiel und dergl. zu den Parteizwecken heranzuziehen, was aber bis jetzt völlig misslungen ist. Eine rege Agitation wird von der Partei dahin entfaltet, Frauen sowie Mädchen zu den sozialdemokratischen Frauenvereinen und den auf sozialdemokratischer Grundlage stehenden gewerkschaftlichen Vereinen – Gesang- und Turnvereine – heranzuziehen, die aber hier bisher ebenfalls nur von wenig Erfolg gewesen ist.

Der Zulauf zur Partei war hingegen ungebrochen. Es gab 1912 605 männliche und 124 weibliche Genossen im Ortsverein.

Noch am 31. Juli 1914 veranstaltete der SPD-Ortsverein eine Versammlung zum in Aussicht stehenden Kriegsbeginn. Das “Wernigeröder Tageblatt” schrieb am 1. August: “Gegen den Krieg – für den Frieden”, so lautete das Thema des gestrigen Abends, über welches Redakteur Paulick – Dessau in der im Volksgarten von der sozialdemokratischen Partei veranstalteten öffentlichen Versammlung vor einer stark erschienenen Zuhörerschaft sprach. Nach der Eröffnung der Versammlung durch den den Vorsitz führenden Stadtverordneten Salzwedel ergriff der Referent das Wort und wies auf die drohende Kriegslage hin, die sich jetzt ganz systematisch zu der lange gefürchteten Katastrophe des Weltkrieges verdichten wolle. Redner behauptete, daß Oesterreich den Krieg mit Serbien vom Zaune gebrochen habe und es liege die Gefahr nahe, daß der deutsche Kaiser, der sich lange genug erfolgreich um den Frieden gemüht habe, den Ratschlägen seiner Umgebung nachgebe und durch das Eingreifen der deutschen Streitmacht bei einem Vorgehen Rußlands den Dingen ihren Lauf lasse. Die offizielle Veranlassung des österreichischen Krieges gegen Serbien sei die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch serbische Attentäter gewesen; aber deshalb dürfe nicht geduldet werden, daß diese Tat durch einen Krieg, in dem tausende von Männern zum Opfer fallen, gesühnt werde, da das Leben dieser Ermordeten auch keinen höheren Wert besessen habe als das anderer Menschen. Die Bedingungen, die die österreichische Note an Serbien gestellt habe, um den Krieg abzuwenden, seien so furchtbar, daß keine Regierung des serbischen Landes sie annehmen konnte. Die serbische Regierung sei bereit gewesen, trotzdem die meisten Forderungen zu erfüllen; doch habe Oesterreich das gar nicht gewollt, sondern einen Krieg beabsichtigt und erzwingen wollen. Der glühende Haß der Serben sei durch die systematische Niederhaltung Serbiens durch Oesterreich hervorgerufen worden und diese Schuld habe auch in letzter Linie das schreckliche Attentat von Sarajewo veranlaßt. Rußland habe zwar die wenigste Veranlassung, einem so geknechteten Volke zu Hilfe zu eilen, da es im eigenen Land selbst genug die Menschen knechte, aber Deutschland hätte müssen den Vorschlag Englands annehmen, um wenigstens den Weltkrieg zu verhüten. Die Sozialdemokratie sei die einzige gewesen, die in Deutschland die Stimme gegen die Kriegsbegeisterung erhoben hätte. Leider sei sie aber deswegen verunglimpft worden. Auch in Wernigerode habe die “Wernigeröder Zeitung” gegen die “Kreiszeitung” Front gemacht, da deren Verleger die Bekanntmachung der heutigen Versammlung auf rotem Papier gedruckt und auf den Anschlagsstellen aufgeklebt habe, womit er doch nur eine Vertragspflicht gegenüber der Stadt erfüllte, die vorschriebe, daß auf diesen von ihr verpachteten Anschlagsplätzen jede Bekanntmachung angeschlagen werde. Die Erfüllung dieser Vertragspflicht bedeute nur eine anerkennenswerte Leistung. Redner schilderte weiterhin das Elend, welches in der Menschheit durch einen Krieg entstände, in welchem sich Menschen, die sich nie gekannt haben, töten müßten, schilderte die Folgen eines Krieges für die Zurückbleibenden, die ungeheuer werden würden, da ein allgemeines finanzielles Debacel nicht ausbleiben könne. Menschen, die noch ihre gesunden Sinne haben, könnten sich unmöglich für den bevorstehenden Krieg begeistern. Ein Krieg würde nach den angestellten Berechnungen 60 Millionen Mark pro Tag, also monatlich 1800 Mill. Mark kosten. Allein die Sozialdemokratie habe heute noch den Mut zu sagen, ein Krieg müsse unter allen Umständen verhütet werden. Deshalb müsse jeder Friedensfreund die Sozialdemokratie stärken, indem er ihr beitritt und ihre Ziele unterstützt. Die Sozialdemokratie fordere Freiheit und Recht, damit keiner sei des andern Knecht.

Am 16.10.1916 berichtete das “Wernigeröder Tageblatt”: Stadtverordneter Bartels wurde am Sonnabend zu Grabe getragen. Die Arbeiterschaft gab ihrem verehrten Führer und Berater fast vollzählig das letzte Geleit, und in dem übergroßen Gefolge sah man ferner Mitglieder des Magistrats mit dem 1. Bürgermeister und des Verstorbenen Kollegen von der Stadtverordnetenversammlung. Am Grabe widmete Reichstagsabgeordneter Brandes dem toten Genossen einen längeren Nachruf, in dem er das selbstlose Wirken des Verstorbenen schilderte und dessen Verdienste um die Arbeiterbewegung hervorhob. Mit ihm ist ein Mann dahingegangen, der den größten Teil seines arbeitsreichen Lebens der Hebung des Arbeiterstandes widmete, und der unermüdlich für die Sache tätig war. In den Herzen seiner Anhänger wird er immer fortleben.

Sozialdemokraten – kaisertreu?

In der bisherigen vornehmlich DDR-beeinflussten Geschichtsschreibung über die Wernigeröder Arbeiterbewegung wurde immer wieder behauptet, dass die (Wernigeröder) Sozialdemokratie noch am 5. November 1918 “kaisertreu” gewesen sei. Belegt wurde dies mit einem Hinweis auf einen Artikel im “Wernigeröder Tageblatt” vom gleichen Tage. In diesem Artikel wurde über eine Versammlung in Karlsruhe berichtet, in der der badische sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Marum sagte: Gewiß, wir Sozialdemokraten sind Republikaner und haben als solche keine Veranlassung, uns als Schutzwall vor die Hohenzollern zu stellen, aber darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: die Mehrheit des deutschen Volkes ist heute noch monarchistisch gesinnt. … Für uns als Sozialdemokraten handelt es sich darum, daß wir einen Rechtsstaat bekommen. Die Frage mit oder ohne Monarchie ist von untergeordneter Bedeutung. Wir können aber richtige Politik in einem Rechtsstaat nur mit der Mehrheit und nicht gegen die Mehrheit des Volkes machen, wenn wir nicht russische Zustände bekommen wollen. Wie man sehen kann: Weder kommen in diesem Artikel Wernigeröder Sozialdemokraten zu Wort, noch ist diesem Bericht eine besondere “Kaisertreue” der Sozialdemokratie zu entnehmen.

Die Revolution schwappte auch in den Harz: Auch in Wernigerode wurde gestreikt. Am 9.11.1918 zog eine Demonstration zum Landratsamt zu Landrat von Stosch, der seit 1912 im Amt war und es bis 1945 bleiben sollte. Vertreter der Demonstranten verhandelten mit dem Landrat über die prekäre Versorgungslage und brachten den Wunsch nach Frieden zum Ausdruck. Im weiteren Verlauf bildete sich auch in Wernigerode mit einem Arbeiterrat eine Art “zweites Parlament”, der zusammen mit dem ebenfalls gebildeten Soldatenrat die Errungenschaften der Revolution verteidigen und die Behörden kontrollieren sollte. Welcher Umschwung auch in Wernigerode stattfand zeigte sich an der Tatsache, dass der Fürst sogar den Arbeiter- und Soldatenrat finanziell unterstützte, was allerdings weniger politischer Überzeugung als mehr taktischem Kalkül entsprungen sein dürfte.

Der Soldatenrat verhandelte am 10.11.1918 laut Protokoll mit dem amtierenden Zweiten Bürgermeister über die Situation in der Stadt. Der Bürgermeister notierte dazu: Die verschieden gestellten Fragen über zu treffende Maßnahmen wurden besprochen bzw. beantwortet. Der Soldatenrat gab die feste Versicherung ab, daß er alles aufbieten würde dazu beizutragen, daß Ruhe u. Ordnung in unserer Stadt herrschen soll. Zu Schluß wurde darüber abgestimmt, daß auf dem Landratsamt und auf dem Rathause vom 11. d. Mts. ab, die rote Fahne 8 Tage lang gehißt werden soll. Vom Soldatenrat waren anwesend bei der Besprechung:

Wiedener Wilh. Off. Stellv. als Vorsitz.

Thierbach Carl San. Uffz.

Zirbel Herm. San. Uffz.

Zimmerling Fritz Gefr.

Matuschke Erich Gefr.

Peterson Carl Obermatrose

Noah Heinrich Flieger

Goslar Herm. Musk.

Winter Paul Uffz.

10.) Dirksen Fritz Inf.

11.) Rabe Carl Gefr.

12.) Ermisch Carl Luftsturmm.

13.) Becker Robert Uffz.

Wernigerode den 11. November 1918

Der Bürgermeister

Zur Ausrufung der Weimarer Republik November 1918

Das “Wernigeröder Tageblatt” teilte am 11.11.1918 Folgendes mit: Im Volksgarten wurde am Sonntag morgen um 11 Uhr eine Volksversammlung abgehalten, die vom Stadtverordneten Niewerth eröffnet und geleitet wurde. Herr Niewerth teilte mit, daß Deutschland zur Republik ausgerufen und Reichstagsabgeordneter Ebert zum Reichskanzler ernannt worden sei. Für die Bevölkerung sei es jetzt die Hauptsache zu verhüten, daß Ernährungsschwierigkeiten eintreten und daß Ruhe und Ordnung gehalten werde. Er gab das Wort Herrn Hermes, der ruhig und sachlich über die am Sonabend abend stattgefundene Stadtverordnetenversammlung berichtete. Dann redete Herr Stadtverordneter Mayhack, der ausführte, daß durch die Umwälzung Tatsache geworden sei, was sich die Sozialdemokratie seit langem gewünscht hätte, es gelte nun diesen Erfolg auszubauen und sich darüber zu einigen, was weiter zu machen sei. Es müsse ein Arbeiterrat gebildet werden, der mit dem ins Leben gerufenen Soldatenrat zu raten und zu taten habe. Herr Mayhack erging sich über die Ursachen der Volksverbitterung … erwähnte, daß wir schon längst einen Verständigungs- und Vernunftfrieden haben konnten und nun auf einen Gewaltfrieden, den unsere Machthaber für Deutschland erstrebten, eingehen müßten. … Der Arbeiter- und Soldatenrat würde in Gemeinschaft mit den Behörden, die ihre Mitwirkung zugesagt hätten arbeiten zum Wohle der Gesamtheit. Herr Keffel gab die Vorschläge für den Arbeiterrat …, er bat, der zu wählenden Kommission keine ungerechtfertigten Vorwürfe zu machen und gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß die sozialdemokratischen Forderungen bei den Behörden eine günstige Aufnahme gefunden hätten, auch sein verlesener Antrag auf Einführung der Arbeitslosenunterstützung würde von Erfolg sein. … In den Arbeiterrat wurden widerspruchslos gewählt die Herren: Metallarbeiter Karl Neubauer, Metallarbeiter Hermann Kaiser, Buchdrucker Heinrich Keffel, Steinarbeiter Albert Kresse, Maschinensetzer Hermann Schwarzwald, Zigarrenmacher Karl Husung, Metallarbeiter Otto Wirth, Schuhmacher Ernst Schmidt, Steinhauer Hermann Hoppe und Sägemüller Hermann Trümpelmann.

Das “Wernigeröder Tageblatt” vermeldete am 22. November eine Nachricht aus dem benachbarten Land Braunschweig: Dort hatte sich in Benzingerode ebenfalls ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. In ihn wurden gewählt der Vizewachtmeister Rodermund, der Sergeant Schuhose, der Former Trümpelmann und der Waldarbeiter Wermuth. Am 23.11.1918 wurde in einer öffentlichen Versammlung der Gemeinderat durch den Arbeiter- und Soldatenrat abgelöst. Bereits Ende Dezember jedoch war von ihm keine Rede mehr. In den Ratsprotokollen hieß es wieder “Gemeinderat” und “Ortsvorsteher”.

Januar 1919: “Der Bruderkrieg in Berlin”

Wie sehr die eskalierende Situation in Berlin auch bis Wernigerode ausstrahlte, zeigte sich darin, dass am 9. Januar 1919 das “Wernigeröder Tageblatt” auf der Titelseite unter der Überschrift “Der Bruderkrieg in Berlin” zu den Vorgängen dort Stellung nahm. In dem Bewusstsein, dass die gerade erfolgte Revolution in Deutschland eine sozialdemokratische Errungenschaft war, auf die die Abeiterbewegung seit 1848 gewartet und hingearbeitet hatte, und in dem Wissen, dass es diese Errungenschaft nun zu schützen, zu bewahren und zu stärken galt, hieß es in dem der SPD-Blatt: Die Gewaltherrschaft der Liebknecht-Garde, die mit russischem Geld arbeitet, wird immer unerträglicher. Wie am Sonntag, so haben am Montag weitere Demonstrationen stattgefunden, die schließlich an verschiedenen Stellen zu schweren Zusammenstößen und zu Blutvergießen geführt haben. Der Vorstand der sozialdemokratischen Partei Groß-Berlins hat in hunderttausenden Exemplaren folgenden Aufruf an die Parteigenossen verbreiten lassen: “Arbeiter, Bürger, Soldaten, Genossen! Zum zweitenmal haben die Banditen des Spartakusbundes den “Vorwärts” gewaltsam besetzt. Ihre Führer proklamieren öffentlich erneut den gewaltsamen Sturz der Regierung, Mord, blutigen Bürgerkrieg und Errichtung der Spartakusdiktatur. Dem deutschen Volke, insbesondere der Arbeiterschaft, drohen die schlimmsten Gefahren. Anarchie und Hunger wären die Folgen der Spartakusherrschaft. Jetzt ist unsere Geduld zu Ende, wie wollen uns nicht länger von Irrsinnigen und Verbrechern terrorisieren lassen, es muß endlich Ordnung in Berlin geschafft und der ruhige Aufbau des neuen republikanischen Deutschlands gesichert werden. Wir fordern euch auf zum Protest gegen die Gewalttaten der Spartakusbanditen, die Arbeit einzustellen und sofort unter Führung eurer Vertrauensleute vor dem Hause der Reichsregierung zu erscheinen. Arbeiter, Bürger, Soldaten, Genossen! Erscheint in Massen, zeigt, daß ihr Mannes genug seid, aus eigener Kraft eure Freiheit, euer Recht und euer Parteieigentum zu schützen.” Diesem Aufruf der sozialdemokratischen Parteileitung haben die Massen ihrer Anhänger in solchem Maße Folge geleistet, daß dagegen die Scharen der Spartakusanhänger klein erscheinen. Dieser Artikel verdeutlicht exemplarisch die Zwangslage der Sozialdemokratie kurz nach der Revolution, zeigt die – später auch in Wernigerode – beginnende Spaltung der Arbeiterbewegung und offenbart mit den Schilderungen der Zustände einer “Spartakusdiktatur” Prophezeiungen, die im kommunistisch geführten Russland alsbald Realität werden sollten.

Wahlen zur Nationalversammlung 1919

Die Wahlen zur Nationalversammlung 1919 untermauerten den Siegeszug der SPD auch in Wernigerode: Das Wahlergebnis lautete 5.773 Stimmen für die Sozialdemokraten gegenüber 4.411 Stimmen für die vier bürgerlichen Parteien, wovon 2.417 die linksbürgerliche Deutsche Demokratische Partei wählten. Für die USPD gab es nur 31 Stimmen, im Kreis 153 Stimmen (davon 138 in Stapelburg). Die KPD trat nicht an, weil sie die Wahl deutschlandweit boykottierte. Im Kreis Wernigerode stimmten 10.469 Wähler für SPD und 8.302 Wähler für die bürgerlichen Parteien.

März 1920

Als in Berlin rechtsradikale Militärs um Lüttwitz, Ludendorff und Kapp die demokratische gewählte Regierung wegputschte, erhob sich in ganz Deutschland eine insbesondere von Arbeitern, den Gewerkschaften und der SPD getragene Protestwelle, die in einen Generalstreik mündete, der den rechten Spuk in Berlin nach wenigen Tagen beendete.

Schon am Samstag, dem 13. März, dem Beginn des sogenannten “Kapp-Putsches” schrieb das “Wernigeröder Tageblatt” über eine umgehend einberufene Versammlung im “Volksgarten”, dem Treffpunkt der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung an der Ecke Schmatzfelder / Feldstraße, in der die Bildung eines Aktionsausschusses diskutiert wurde: In den Aktionsausschuß müßten die Besten der Arbeiterschaft gewählt werden. Durch Abstimmung wurde verlangt, daß die Waffen der Einwohnerwehr dem Aktionsausschuß zur Obhut anvertraut werden sollen. Mit einem dreifachen donnernden Hoch auf die Republik wurde die Versammlung geschlossen. An den Zugängen und in der Stadt wurde ein Sicherungs- und Patroulliendienst errichtet.

Das “Wernigeröder Tageblatt” skizzierte die weiteren Ereignisse: Am Sonntagvormittag (dem 14. März) um 11 Uhr fand im Rathause eine von Bürgermeister Jahn einberufene Zusammenkunft der Vertreter der Arbeiterschaft und der übrigen Bürgerschaft statt, um die weiteren Schritte gegenüber der politischen Lage zu beraten. … (Der SPD-Vorsitzende Salzwedel hob hervor, daß es der Wunsch der am Sonnabend abend im Volksgarten stattgehaltenen Veranstaltung gewesen sei, besonders auch darauf Rücksicht zu nehmen, daß möglichst alle wirtschaftlichen Betriebe aus der Einwohnerschaft mit je einem Vertreter zu dem Aktionsausschuß herangezogen werden möchten, denn nur auf diese Weise sei es möglich, Beschlüsse zu fassen, die Wernigerode vor Unruhen und Wirren bewahren. Diesem Wunsche wurde entsprochen und seitens der Berufsgruppen … Vertreter bestimmt, die mit ihrer Zahl der Zusammensetzung des 12gliedrigen engeren Aktionsausschusses der Arbeiterschaft entsprechen und mit diesem den engeren Aktionsausschuß der Einwohnerschaft bilden.

Am 14. März um 15.00 war eine Volksversammlung im “Volksgarten” geplant. Der Zustrom war aber so groß, dass der Saal nicht ausreichte und deshalb wurde beschlossen, zum Kurhaus (dem ehemaligen “Stadtgarten”) zu marschieren. Auch der Kurhaussaal war überfüllt. Hierzu schrieb das “Wernigeröder Tageblatt”: Man habe das Vertrauen zu der Wernigeröder Arbeiterschaft, daß sie allen Weisungen des Aktionsausschusses folgen werde.. … Am 9. November(1918) galt es, der Revolution zum Siege zu verhelfen, heute geht es um Sein oder Nichtsein des ganzen deutschen Volkes. Die Wernigeröder Arbeiterschaft hat durch ihr Erscheinen bewiesen, daß sie geschlossen hinter der Regierung Ebert / Bauer steht (stürmischer Beifall). Die Versammlung beschloß … in den sofortigen Generalstreik zu treten.

Der Aufruf zum Generalstreik erschien im “Wernigeröder Tageblatt” und hatte folgenden Wortlaut: An die Gesamtbevölkerung von Wernigerode und Nöschenrode. Heraus zum Generalstreik! Das ungeheure Geschehen lastet wie ein Alpdruck auf dem Deutschen Volk. In der Stunde der Gefahr erwartet der unterzeichnete Aktionsausschuß, daß ein einheitlicher Wille sich diesen Anordnungen fügt. Die nächsten Tage entscheiden über Deutschlands Zukunft, deshalb wird gefordert, daß Besonnenheit erste Pflicht ist. Von der Gesamtarbeiterschaft ist der Generalstreik beschlossen worden, um damit zu erreichen, daß jene verbrecherischen Elemente beseitigt werden, welche die Regierungsgewalt an sich gerissen haben. Alle Betriebe liegen still mit Ausnahme der lebenswichtigen nachbenannten Betriebe: Krankenversorgung, Sicherheits- und Wachdienst, Eisenbahn, Post, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk, Schlachthof, Nahrungsmittelbranche, Notstandsarbeiten der Landwirtschaft, der Milch- und Viehwirtschaft, Gastwirtschaften ohne Ausschank von geistigen Getränken, Konditoreien nur zur Herstellung von Brot, Notstandsarbeiten für verderbliche Waren, Notstandsarbeiten an Hochöfen, elektrische Stromabgabe nur für lebenswichtige Betriebe. Geschlossen sind außer den Industriebetrieben alle offenen kaufmännischen Geschäfte, sämtliche Handwerksbetriebe, Kinos und sämtliche Lustbarkeiten. Alle vorhandenen Rolläden an Geschäftshäusern sind herabzulassen. An alle Einwohner ergeht der Ruf, die Ruhe zu bewahren! Jeder muß den Anweisungen des Aktionsausschusses folgen. Die Freiheit ist in Gefahr! Es gilt die Republik zu schützen! Der engere Aktionssausschuß

Mit einem weiteren “Aufruf an die Bevölkerung von Wernigerode und Nöschenrode” wandten sich alle politischen Parteien (USPD, SPD, DDP, DNVP, Zentrum, DVP) gegen den Kapp-Putsch: Am Sonnabend tagte gegen abend im Rathause eine Sitzung aller politischen Parteien am Platze mit dem Magistrat und der Gemeindevertretung Nöschenrode, die an die Bevölkerung nachstehenden Aufruf erließ, der in Gestalt von Flugblättern bekannt gemacht wurde: Jeder… muß diesen Umsturzversuch aufs schärfste verurteilen, kann ihn nur das Produkt völliger politischer Unfähigkeit sehen und muß mit allen Mitteln helfen und handeln, daß jener ungesetzliche Umsturzversuch unterdrückt wird. Der Magistrat Wernigerode, die Gemeinde-Vertretung Nöschenrode, sowie alle politischen Parteien fordern die Bürgerschaft auf, Ruhe und Ordnung zu halten, jeden Versuch umstürzlerischer Betätigung zu verhindern und so zu ihrem Teile beizutragen, von unserem Volke jene unheilvollen Folgen abzuwenden.

Tatsächlich wurde die Anordnung zum Generalstreik in Wernigerode befolgt. Auch die Handwerker und Geschäfteinhaber schlossen sich an. Darüber hinaus wurden ständig Versammlungen einberufen.

Am 18. März – nachdem am 17. März die Zeitung nicht erschien – titelte das “Wernigeröder Tageblatt” “Die Lösung der Krisis” und vermeldete den Rücktritt Kapps und die Flucht der Putschisten. Ebenso auf der Titelseite berichtete die Zeitung über eine “Volksversammlung am Mittwoch”. Auch dieser Bericht zeigt, dass es darum ging, die Arbeiterschaft versammelt zu halten, Einigkeit und Kampfbereitschaft zu demonstrieren – und “nebenbei” auch noch etwas für die Bildung zu tun: Auch die gestern nachmittag einberufene Volksversammlung war unglaublich überfüllt. Dicht gedrängt, sodaß buchstäblich kein Apfel zur Erde fallen konnte, standen die Massen der Zuhörer. Genosse Steigerwald teilte namens des Aktionsausschusses mit, daß auch für heute nachmittag die uns zu Verfügung stehende freie Zeit mit einem wissenschaftlichen und zugleich populären Vortrag ausgefüllt werden sollte. Hierzu hatte sich Herr Betriebsleiter Körber vom städtischen Elektrizitätswerk zur Verfügung gestellt. Der Redner erläuterte an Hand seiner praktischen Tätigkeit in ausgezeichneter Weise das Wesen und die Art der Elektrizität. … Herr Steigerwald ergriff dann zu den neuesten Phasen des Generalstreiks das Wort. In atemloser Spannung lauschte die Versammlung den Meldungen. Anknüpfend an diese Depeschen ermahnte der Redner auch fürderhin Ruhe und Ordnung zu wahren. Die Versammlung ging mit einem dreifachen Hoch auf die junge deutsche Republik auseinander.

Am 19. März erschien ein Artikel – geschrieben vom Redakteur Willy Steigerwald – unter der Überschrift “Volksversammlung im Monopol am Donnerstag” im “Wernigeröder Tageblatt”: “Die Würfel sind gefallen, das Endresultat des Kampfes hat sich dem deutschen Volke zugewendet”, diese Worte wurden der an der Spitze des gestrigen Blattes stehenden Depesche vorangesetzt. Und nun erst war die eigentliche Entspannung der Gemüter eingetreten, die sich durch lebhaften Beifallssturm äußerte. … Und mit dem Rufe: “Nicht betteln, nicht bitten, nur wacker gestritten für Freiheit und Recht da kämpft sichs nicht schlecht” wurden die von stürmischem Beifall aufgenommenen Ausführungen begleitet. … Der 18. März 1848 und der 18. März 1920 werden fürderhin Gedenksteine in der Geschichte des deutschen Volkes sein und nur Einigkeit führt zum Ziele! Mit diesen Worten und einem Hoch auf die Republik schloß der Unterzeichnete die imposante Versammlung, nachdem zuvor die vorgenommene Abstimmung die einstimmige Annahme der Beendigung des Generalstreiks ergeben hatte.

Die “Lokalen Nachrichten” des “Wernigeröder Tageblattes” vom 19. März dokumentierten bereits den Wiedereintritt in die Normalität: Der Generalstreik ist in Wernigerode gestern abgebrochen und die Arbeit heute morgen allenthalben wieder aufgenommen worden. Der Streik ist, abgesehen von einigen unbedeutenden Uebergriffen der erregten Menschen in tadelloser Ordnung und Ruhe verlaufen. Verschiedentlich sind Waffen und auch vereinzelte Waren, wegen Uebertretung der Streikanordnung beschlagnahmt worden. Umlaufende Gerüchte über blutige Kämpfe in Nachbarstädten bestätigten sich nicht. In einmütigem Zusammenstehen der Arbeiterschaft und des fortschrittlich denkenden Bürgertums hat Wernigerode sein ehrlich Teil zum Erfolg beigetragen, nun ist es auch Pflicht gemeinsam auf Linderung der Not hinzuarbeiten. Zu diesem Zwecke soll heute Abend ½ 9 Uhr im Rathause eine Besprechung zwischen den Vertretern der Arbeitgeber und dem Aktionsausschuß stattfinden, es gilt Mittel und Wege zu finden die geeignet sind den Lohnausfall der Arbeiterschaft wieder wett zu machen, damit in der nächsten Woche die Not nicht allzu sehr Platz ergreifen wird.

Bereits am 20. März erschien im Wernigeröder Tageblatt eine Anzeige unter der Überschrift “Beschluß der Arbeitgeber-Verbände bezügl. der heutigen Lohnzahlung”. Darin hieß es: In der gestern abend stattgehabten Sitzung der hiesigen Arbeitgeberverbände mit dem engeren Aktions-Ausschuß wurde vereinbart: Auf Antrag der Arbeitnehmervertreter der einzelnen Betriebe jeder Art soll der volle Wochenlohn heute zur Auszahlung gelangen. Soweit Beträge für nicht gearbeitete Zeit zur Auszahlung gelangen, sollen diese als Vorschuß gelten, dessen Abgeltung nach den Beschlüssen der zentralen Arbeitsgemeinschaften, gegebenenfalls nach der einheitlichen Regelung der Reichsregierung stattfinden soll.