Leserbrief vom 16. Juli 2010: “Künstler setzten sich für Gerechtigkeit in der Welt ein”

13. Juli und kein Hinweis auf 25 Jahre „Live Aid“ – hat da das Feuilleton meiner Tageszeitung vielleicht ein Jubiläum „verschlafen“? Oder war es doch eher der Bereich „Politik“? Erinnern wir uns? Anfang der 1980-er Jahre… Am Horn von Afrika ist wie so oft Krieg. Es ist ein Stellvertreter-Krieg. In Äthiopien herrscht ein brutales kommunistisches System, das durch ethnische Probleme und vom Westen destabilisiert wird. Leidtragende ist die Bevölkerung. Waffen statt Getreide, Munition statt Brot. Die schreienden Bilder von Verhungernden sind schrecklich. Auch im Sudan, in Mosambique, oder im Tschad- überall die teuflische Allianz Krieg und Hunger. Im 20. Jahrhundert… Doch die Machthaber ist Ost und West befinden sich im Stellungskampf des Kalten Krieges. Die Frage lautet, ob es reicht, den Gegner mit den eigenen Atomwaffen „nur“ 22 Mal oder besser 27 Mal zu vernichten… Kein Geld für Sterbende. Die Künstler aus dem Rock- und Popbereich können dieser Ignoranz nicht mehr zusehen. Der Rockmusiker Bob Geldof ergreift die Initiative. Im Jahr 1984 finden sich in den USA und in Großbritannien Musiker zusammen und spielen jeweils eine Single (eine kleine Schallplatte) ein: „USA for Africa“ nennt dies „We are the World“, und die britische „Band Aid“ fragt beschwörend „Do they know it’s Christmas?“. Damit rollt eine einer größten nichtstaatlichen Spendenbewegungen der Geschichte an. Die Verkaufserlöse der Singles helfen direkt vor Ort – und doch sind sie nur ein Tropfen auf den heißen afrikanischen Stein. Es muss noch mehr passieren. Im Sommer 1985 ist es soweit: Am 13. Juli gegen 13 Uhr eröffnen „Status Quo“ im Londoner Wembley-Stadium das Live-Aid-Concert mit dem nie wieder so passenden „Rockin‘ all over the world“. Denn dieses Konzert findet nicht nur an einem Ort statt – und damit schreibt es eine weitere Geschichte: Video-Einspielungen (damals ein ziemlich neues Medium) aus ganz Westeuropa und Afrika dokumentieren, dass Musiker des Rock- und Popbereiches solidarisch sind mit den ums Überleben kämpfenden Afrikanern. In Westdeutschland heißt das Ganze „Band für Afrika“. Auf der Kölner Domplatte sehen und hören Tausende live „Nackt im Wind“ der Band, die sich zusammensetzt aus wirklich allen zu dieser Zeit bekannten (und ernst zu nehmenden) Künstlern westlich der Elbe. Die DDR hielt sich fern. Im kommunistischen „Bruderstaat“ Äthiopien gab es nach Ansicht des Politbüros keine schwerwiegenden Probleme… Und während rund eineinhalb Milliarden Menschen weltweit die Fernsehübertragung sahen oder am Radio hörten, gab es für die Medien der DDR „wichtigeres“, als sich der internationalen Hilfe anzuschließen und die eigene Bevölkerung via TV und vielleicht sogar mit einem eigenen Bandprojekt an der Hilfe teilhaben zu lassen. Wir saßen also im Ostharz am Schwarz-Weiß-Fernseher und versuchten mit der Zimmerantenne vergeblich eines der dritten Westprogramme dauerhaft zu sehen. Zum Glück gab es ja auch den NDR, der auf seinem 2. Programm im Radio live übertrug – und wir konnten dies auf dem Tonband mitschneiden. Das rund achtzehnstündige Konzert war sicherlich eines der bedeutensten technischen, kulturellen, politischen und musikhistorischen Ereignisse. Neben etlichen heute nicht zu Unrecht vergessenen One-Hit-Wonder und Pop-Gruppen (die gleichwohl am gigantischen Erfolg von „Live Aid“ ihren bleibenden Anteil hatten) gab es Ereignisse, wie die Beiträge von Queen, The Who, Led Zeppelin (mit Phil Collins am Schlagzeug – leider ist dieser Auftritt nicht auf der im Handel erhältlichen Vierfach-DVD), den Beach Boys, Joan Baez, Paul McCartney, Neil Young, Bryan Adams, den Dire Straits, den Pretenders, Crosby, Stills & Nash, Tom Petty, Black Sabbath, Eric Clapton, Bob Dylan und vielen anderen. Ein solches fulminantes Aufgebot an großartigen Künstlern gab es in der Geschichte der Musikfestivals bis dahin vielleicht nur in Monterey, Woodstock, beim Isle of Wight-Festival oder beim Concert for Bangladesh, dem Vorbild aller Benefiz-Konzerte. Technisch war das Ganze eine Meisterleistung, denn nachdem von London aus der Konzertmarathon begann, klinkte sich später Philadelphia in den USA ein und man übertrug im Wechsel von beiden Bühnen. Eine Globalisierung, wie man sie sich wünscht. Ein ziemlich aufgeregter und nervöser Jack Nicholsen sagt von den USA aus „U 2“ in London an… Und alles fast klappte! Hochachtung vor den Zehntausenden Leuten im Wembley- und im JFK-Stadium. Stundenlang standen diese in der (selbst in London an diesem Tag zu verzeichnenden) Gluthitze – sie feierten nicht nur die Musik, sie begriffen auch die Bedeutung dieses Ereignisses. Unvergessen: Mit Elvis Costello singt Wembley einen „northenglish folksong“: „All you need is love“. In der Hochzeit des Kalten Krieges eine Rückbesinnung auf die Zeiten der „Flower Power“. Vielleicht war es auch in Bezug auf Phil Collins und in Anbetracht des Anliegens des Konzerts dann zuviel des Guten, dass er nach seinem Londoner Beitrag mit der Concord und der Zeitverschiebung nach Philadelphia flog, um auch dort aufzutreten. Doch, dies ist nur eine Randnotiz in der Lobpreisung mündiger Künstler, die die Aufgabe der Politiker wahrnahmen und sich für eine Sache einsetzten, die uns noch heute beschäftigt: Die Gerechtigkeit in dieser Welt.

Ralf Mattern, Wernigerode

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