Ein Teil des Leserbriefes ist bezeichnend für die Diskussion um die DDR. Da heißt es nachvollziehbar, dass die DDR-Bürger “unter schwierigen Verhältnissen versucht haben, … ihr Leben einigermaßen vernünftig zu gestalten”, um dann im nächsten Satz zu betonen, dass es “nicht korrekt (ist) alles in der DDR zu verdammen”. Es fällt mir nach wie vor schwer zu begreifen, warum wir Ostdeutschen, anstatt unsere Lebensleistung zu würdigen, mit der DDR einen Staat – und sei es auch nur teilweise – “verteidigen”, der uns das Leben eher schwer gemacht hat. Warum sind wir nicht stolz, TROTZ der DDR anständige Menschen geblieben / geworden zu sein, die – oft genug – dem Staat in Schwejkscher Manier ein Schnippchen geschlagen haben, die eben in übergroßer Mehrheit nicht Spitzel der Stasi waren, die ihre Kinder zu Menschen erzogen haben, die mutig und selbstbestimmt letztlich das DDR-System mit der Revolution im Herbst 1989 zerbrechen ließen? Anstatt all dieses zu betonen wird zu oft der Staat DDR als solcher “verteidigt”, der schon 1977 erstmals (fast), 1982 erneut und 1989 endgültig Pleite war (siehe www.DDR-Wissen.de). Im Frühjahr 1990 hätten die Preise und Mieten um ein vielfaches erhöht werden müssen, (Quelle: Gerhard Schürer, Chef der Plankommission der DDR im Gespräch 1999 im Fokus) – die (vermeintlichen) und stets auf Pump finanzierten sozialen Segnungen (keine Arbeitslosen, billige Lebensmittel und Energie) hätten sich in Luft aufgelöst. Ein Staat, der europäische Spitzenwerte bei der Selbstmord- und Alkoholikerrate aufwies, in dem die Menschen früher starben als in Westdeutschland, der in Europa einmalige ökologische Katastrophengebiete hervorbrachte, dessen Infrastruktur noch aus der Kaiser-, bestenfalls aus der Nachkriegszeit stammte, dessen Bausubstanz marode und dessen Industrie bis auf wenige Ausnahmen zerschlissen war, dessen moralischer Anspruch mit den Gefangenenverkäufen, den oft erbarmungswürdigen Zuständen in Alten- und Pflegeheimen, dem Einmauern der eigenen Bürger, den beabsichtigten militärischen Einmarschieren in Polen und der CSSR, dem Verramschen von Kulturgütern (und Pflastersteinen!) in den Westen oder den Waffenexporten in Kriegsgebiete völlig gescheitert war. Sicherlich: Das System der Polikliniken und Gemeindeschwestern, das gemeinsame Lernen bis zur 10. (wenn auch oft genug in übervollen) Klasse, die einheitlichen Schulbücher, manche DEFA-Filme, der Sandmann und die Null-Promille-Grenze im Straßenverkehr waren löbliche Teilaspekte der DDR-Wirklichkeit. Doch rechtfertigt das die DDR als Ganzes zu relativieren unter dem Motto: Es war doch nicht alles schlecht? Gute Filme werden auch woanders gemacht, ein gemeinsames Lernen oder die Null-Promille-Grenze gibt es auch in anderen (nicht diktatorischen) Ländern. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Und natürlich gibt es auch Menschen, die dafür Verantwortung trugen. Wenn etliche dieser Leute, die heute die Bequemlichkeiten des westdeutschen Sozialstaats gern in Anspruch nehmen und für ihr früheres Handeln in der DDR nie zu Rechenschaft gezogen wurden und werden, die DDR glorifizieren, mag das Verklärung, vielleicht auch Trotz oder das Vergessen des in den 1980-er Jahren herrschenden Zustandes der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit sein. Der größte Teil der DDR-Bevölkerung war hingegen nicht Nutznießer des Unrechtssystems, sondern lediglich eine Nummer im Arbeitsprozess, ständiger Bittsteller und Schlangensteher. Dass nicht jeder die Kraft, den Mut, die Gelegenheit hatte, sich vor dem Hintergrund der drakonischen Strafmöglichkeiten gegen das System aufzulehnen, sollten uns Bürger aus den Altbundesländern nicht vorhalten. Wie hätten die wohl in einer Diktatur gelebt? Bei allen Fehlern, die unsere heutige Gesellschaft hat: Eine Diktatur (egal, ob von “links” oder “rechts”) ist und bleibt stets die schlechteste aller Regierungsformen.
Ralf Mattern