Die Zeit der Weimarer Republik

In der Wernigeröder USPD gab es schon Ende 1920 Bestrebungen, die dem weiteren Verlauf in Deutschland vorgriffen. Während sich in Deutschland die USPD und die SPD erst Mitte 1922 annäherten und im Herbst 1922 vereinigten, geschah in Wernigerode die Vereinigung der Parteien bereits in den ersten Tagen des Monats Januar 1921. Am 13.01.1921 wurde der Zusammenschluss von USPD und SPD in Wernigerode im alten „Schützenhaus“ vollzogen. Am 15.01.1921 erschien im Wernigeröder Tageblatt ein Aufruf an die „Wernigeröder USPD-Genossen, geschlossen zur SPD über zu wechseln“; unterschrieben von Max Otto, Hermann Milatz und Karl Jonas. Am 3. Februar schrieb das “Wernigeröder Tageblatt” angesichts von Meldungen über Übertritte von USPD-Ortsgruppen zur SPD: Das Beispiel von Wernigerode, der 17 ländlichen Ortsgruppen in der Frankfurter Gegend, in Nordbayern usw. macht also Schule.

Am 6. Oktober 1921 endete das Tauziehen um die Besetzung des neu geschaffenen Amtes eines Zweiten Bürgermeisters. Der Sozialdemokrat Hermann Reichardt erhielt von 28 abgegebenen Stimmen 26. Dem vorausgegangen waren erhebliche Irritationen in der Stadtverordnetenversammlung. Am 20.6.1920 wurde in der Finanzkommissionssitzung vom damaligen Ersten Bürgermeister Jahn mitgeteilt, dass eine neue Obersekretärstelle für das Wohlfahrtsamt geschaffen und besetzt werden sollte. Der Inhaber dieser Stelle wäre dann der zweite Bürgermeister. Die SPD-Fraktion verlangte, dass dieses Amt mit einer Person besetzt werde, “die die nötigen Erfahrungen habe, kein Bürokrat sei und aus dem arbeitenden Volke” kommen soll. In der Sitzung der beiden Stadtverordnetenfraktionen am 26. August 1920, in der es auch um die Neubesetzung der Stelle des Ersten Bürgermeisters ging, waren sich die Fraktionen einig, die Stelle des Zweiten Bürgermeisters mit einem Sozialdemokraten zu besetzen. Im weiteren wurde die Frage der Besetzung bis zum 1. April 1921 zurückgestellt, da dies Bestimmungen des Fürsorgeamtes zur Ausschreibung der Stelle so verlangten. Über die Stadtverordnetensitzung am 12. August 1921 schrieb dann das “Wernigeröder Tageblatt” zwei Tage später: Nachdem einige geschäftliche Angelegenheiten ihre Erledigung erfahren hatten, wurde zur Wahl des zweiten Bürgermeisters geschritten. Das Resultat war 15 zu 15 Stimmen für die beiden zur Wahl stehenden Kandidaten, die entgegengesetzt von der Bürgerschaft und der Arbeiterschaft aufgestellt worden waren. Nach dem obigen Resultat der Stimmengleichheit mußte die Besetzung der Stelle nach der Städteordnung durch das Los ausgeknobelt werden. Hierzu kam es allerdings nicht, da die sozialdemokratische Stadtverordneten-Fraktion eine weiter unten im Bericht zu findende Erklärung abgab und hierauf geschlossen den Sitzungssaal verließ. Die Sozialdemokraten achten gewiß das demokratische Prinzip, hier lag aber etwas anderes vor, da der sozialdemokratischen Stadtverordneten-Fraktion schon seit Jahren nach Zusammensetzung der städtischen Körperschaft ein besoldetes Magistratsmitglied zugestanden und versprochen worden war. … Es scheint der Wille der bürgerlichen Vertreter auch in Wernigerode zu sein, die Vertreter der großen Arbeiterpartei von jedem Posten fernzuhalten, also genau wie vor dem Kriege, als ein Sozialdemokrat nicht einmal Nachtwächter sein durfte. … Die sozialdemokratische Stadtverordneten-Fraktion gibt zu dem Wahlergebnis des 2. Bürgermeisters die Erklärung ab, daß sie es ablehnt, einem Kandidaten durch das Los dieses Amt übertragen zu lassen. Die Fraktion war bei der Auswahl ihres Kandidaten so vorsichtig, daß sie es der Kommune gegenüber nicht verantworten kann, dem Zufallsprinzip dieses wichtige Amt zu überlassen. Die so geschaffene Situation ist nicht darnach angetan, heute eine Fortsetzung der Verhandlung erfolgversprechend zu gestalten. Die sozialdemokratische Stadtv.-Fraktion hält es deshalb für geboten, heute die Sitzung zu verlassen. Hierauf verließen die sozialdemokratischen Vertreter geschlossen den Saal. Stadtv.-Vorsteher Büchting stellte die Beschlußunfähigkeit der Versammlung fest. Am 6. Oktober stand dann nur Hermann Reichardt zur Wahl.

Im September 1923 wollten in ganz Deutschland faschistische Organisationen einen “Deutschen Tag” begehen – so auch in Wernigerode. Hier hatte die verbotene Mitteldeutsche Arbeiterpartei aufgerufen. Am vereinten Widerstand der Arbeiter von Wernigerode scheiterte diese Kundgebung. So riegelten hiesige Arbeiter alle Wege nach Wernigerode ab. Mitglieder der KPD, der SPD und der Gewerkschaften umstellten auch den Bahnhof und vereinigten sich dort mit den aus Ilsenburg gekommenen Arbeitern, um ankommende Nazis, in Zusammenarbeit mit der Polizei, am Aussteigen zu hindern. Dieser Tag sollte in der Presse und in der Stadtverordnetenversammlung Widerhall finden. Schon am 7. September erschien ein Leserbrief, der mit “H.” gezeichnet wurde, im “Wernigeröder Tageblatt”. Er befasste sich mit dem anstehenden Wochenende: An die Einwohner von Wernigerode! Durch einen Erlaß des Regierungspräsidenten ist die Mitteldeutsche “Arbeiterpartei” für aufgelöst erklärt und verboten worden. Dieses Verbot gilt natürlich auch für die am Sonnabend und Sonntag geplante Demonstration. Trotzdem den Führern dieser Bewegung diese Mitteilung zuging, besitzen Mitglieder die Unverschämtheit, öffentlich bei den Geschäftsleuten vorzusprechen und zu veranlassen, daß sich diese durch Eintragung in eine Liste verpflichten, an den beiden Tagen in den alten Reichsfarben zu flaggen. Es ist kaum anzunehmen, daß sich Geschäftsleute finden werden, die sich an dieser öffentlichen Demonstration gegen die gegenwärtige Staatsverfassung beteiligen. Jedem vernünftig denkenden Geschäftsmann oder Bürger der Stadt muß und wird es doch einleuchten, daß es sich hier um eine Provokation gegen die handelt, die treu zur Verfassung stehen. Und es wäre ein Stück aus dem Tollhause, wollte man solch unverantwortliches Treiben noch fördern. … Selbstredend wird besonders die Arbeiterschaft ein wachsames Auge haben und zu gegebener Zeit ihre Konsequenzen zu ziehen wissen. … In den nächsten Tagen wird der Wernigeröder Einwohnerschaft ein Spiegelbild des Herrn Bernhard Reiter vorgeführt werden, aus dem mit aller Deutlichkeit zu ersehen, welch Geisteskind dieser “ehemaliger Hitlergardist” ist. … Wem also an Ruhe und Ordnung in der Stadt gelegen ist, der werfe diese Burschen zur Tür hinaus!

Am 10. September 1923 berichtete das “Wernigeröder Tageblatt” über den “Deutschen Tag in Wernigerode”: Die verbotene “Mitteldeutsche Arbeiterpartei” in Wernigerode beabsichtigte am 8. und 9. September hier einen sogenannten “Deutschen Tag” zu veranstalten. Um dem Verbot der Veranstaltung zu entgehen, versuchte man unter dem Decknamen “Mitteldeutscher Arbeiter-Turnverein” dennoch seine Absicht durchzuführen. Anstelle des hinreichend bekannten Hitlergardisten Bernhard Reiter sollte der Studienassessor Jehn vom hiesigen Gymnasium das Arrangement durchführen. Die Polizeiverwaltung konnte zur rechten Zeit auch diese Veranstaltung untersagen, um die Ruhe und Sicherheit in der Stadt nicht zu gefährden. Als am Sonnabend abend dennoch auswärtige Vereine hier eintrafen, um an dem “Fest” teilzunehmen, konnten die Organe der Polizeiverwaltung dafür sorgen, daß die feldmarschmäßig ausgerüsteten Trupps die Stadt verließen. Einer der Trupps zog in die Richtung nach Darlingerode-Altenrode und lagerte in unmittelbarer Nähe der Maul’schen Schokoladenfabrik an der Ilsenburger Chaussee. In später Abendstunde kam es dort noch zu einer Prügelei, in welcher fünf Beteiligte verletzt wurden. Ein zweiter stärkerer Trupp zog, ebenfalls feldmarschmäßig ausgerüstet, nach dem Ziegenberg. Durch Zertrümmerung einer Scheibe verschaffte man sich gewaltsam Zutritt zum neuen Schützenhause und quartierte sich dort zwangsweise ein. Unter dieser Garde befand sich auch Herr Reiter, der dann anscheinend in der Morgendämmerung, als er seine “Aktion” mißglückt sah, das Weite gesucht hat. Von dieser Gruppe aufgestellte Sicherheitsposten versperrten den hiesigen Bürgern den Weg zum Passieren. Die in den Vormittagsstunden des gestrigen Tages noch weiter eintreffenden auswärtigen “Festgenossen” wurden von der Polizei am Bahnhof in Empfang genommen und mit demselben Zuge weitergeleitet mit dem Hinweis, daß die Veranstaltung untersagt sei und nicht stattfinde. In Hasserode anwesende auswärtige Teilnehmer der Veranstaltung wurden von der Polizei, nachdem der Republikanische Sicherheitsdienst den ungehinderten Ausmarsch gesichert hatte, zum Bahnhof geleitet. Damit waren die letzten der nach hier beorderten Hakenkreuzler aus Wernigerode wieder abgeschoben und die Stadt zeigte ihr gewohntes friedliches Bild. … Es wird nun höchste Zeit, daß die Arbeiterschaft und das Bürgertum mit gesundem Sinn durch Zusammenwirken dafür Sorge tragen, daß ortsfremden Elementen, die glauben, auch mit der hiesigen Bevölkerung ihr Hasardspiel treiben zu können, das Handwerk gelegt wird. Soll tatsächlich der sprichwörtlich bekannte Harzfrieden erhalten bleiben, so müssen die Geburtshelfer der “Mitteldeutschen Arbeiterpartei”, die Forker, Reiter und Jehn schleunigst und für immer von hier verschwinden.

Am 12. September kam es erneut zu Auseinandersetzungen: Zwei Lastkraftwagen mit Leuten vom “Stahlhelm” kamen nach Wernigerode und trafen sich mit den Wernigeröder Rechtsextremen am alten Schützenhaus an der Flutrenne. Am Gewerkschaftshaus gegenüber sammelten sich über 1000 Arbeiter. Diese bewaffneten sich mit Zaunlatten. Die Besitzer dreier Grundstücke in der Westernstraße und den Schloß-Lichtspielen wollten 100 Zaunlatten ersetzt bekommen von der Stadt. Auf Beschluss des Magistrats wurden dafür 700.000.000 Mark zur Verfügung gestellt. Nachdem noch mehrere Anträge auf Schadensersatz gestellt wurden (und durch die Inflation) erhöhte sich der Betrag auf 10.959.500.000 Mark.

Am 28. September wurden die Vorkommnisse um die gescheitete Nazi-Veranstaltung und die Ereignisse vom 12. September in der Stadtverordnetenversammlung nochmals ausführlich durch den Ersten Bürgermeister, Herrn Dr. Gepel thematisiert und die Abläufe geschildert. Im Ergebnis wurde beschlossen, eine Hilfspolizei einzurichten, die je zur Hälfte aus sozialistischen und nichtsozialistischen Bürgern bestehen würde. Mit dieser einzurichtenden Hilfspolizei bezog man sich auf die guten Erfahrungen des Aktionskomitees während des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch im Jahr 1920. Ferdinand Salzwedel sagte in der anschließenden Aussprache: “Der Behörde gehört Dank, daß sie verstanden hat, ohne Blutvergießen die Ordnung wieder aufzurichten. Hoffen wir, daß dies auch fernerhin der Fall sein wird.”

Wie sehr vor allem durch die KPD ein einheitliches Auftreten der Arbeiterschaft schon 1927 torpediert wurde, zeigt auch folgendes lokale Beispiel: Das Jahr 1927 endete näm-lich mit einem Paukenschlag in der Stadtverordnetenversammlung. Unter der Überschrift „Proletarische Einheitsfront in Wernigerode“ schrieb das „Halberstädter Tageblatt“ am 11.12.1927: Anläßlich der Wernigeröder Stadtverordnetenwahlen, die im Jahre 1924 stattfanden, ließ sich eine einheitliche Arbeitervertreterliste für das Stadtparlament nicht aufstellen. Die sozialdemokratische und die kommunistische Partei marschierte geson-dert, sodaß neben einem Verlust an Stimmen, die Mandatsträger gespalten blieben und als zwei Linksfraktionen ihren Einzug in die Stadtverordnetenversammlung hielten. Dennoch muß gesagt werden, daß sich eine verhältnismäßig günstige Zusammenarbeit ermöglichen ließ. Beide Fraktionen haben, wenn auch mitunter nicht völlig einig in der Grundansicht, versucht, die Gestaltung der kommunalen Angelegenheiten im Interesse der Allgemeinheit zu beeinflussen und jede Interessenpolitik bestimmter Kreise zu unterbinden. Es ist infolge dieses Verhaltens zu so gut wie keinen Auseinandersetzungen der Linksgruppen gekom-men, die keinem anderen als ihrem Gegner zugute gekommen wären. Es muß auch von der kommunistischen Fraktion gesagt werden, daß sie keineswegs versucht hat, sich von der Verantwortung zu drücken, daß sie vielmehr mit den Sozialdemokraten getragen hat, was an Verantwortung überhaupt übernommen werden können. Es wäre manchmal der bürgerlichen Fraktion doch sehr übel aufgestoßen, wenn ihr die Beschlußfassung allein überlassen worden wäre. Wo immer es galt, die spezifischen Arbeiterinteressen zu ver-treten, gingen die beiden Linksfraktionen geschlossen vor, weil ihnen aus ihrer Tätigkeit bekannt geworden war, daß sich im bürgerlichen Lager hartgesottene Verfechter von Sonderinteressen befinden, die für alle möglichen Dinge „Verständnis“ aufbringen, nur nicht für die Arbeiter und Angestellten. Keineswegs sind Sonderinteressen für die Arbeiter gefordert, nur das was im Rahmen der Pflichtleistungen einer Gemeinde gegenüber den Arbeitern, Beamten und Angestellten liegt. Und gerade dabei hat sich die absolute Ver-ständnislosigkeit derjenigen herausgestellt, von denen man sagen darf, daß sie noch die meiste Fühlung mit den arbeitenden Schichten haben. Solches Verhalten mußte jedem ehrlichen Arbeitervertreter das Bewußtsein einhämmern, daß sich einem kommunalen Bürgerblock gegenüber nur eine geschlossene Arbeitervertreter- Gruppe behaupten kann. Die Lehren sind nicht zu spät gezogen. Die sozialdemokratische und die kommunistische Fraktion haben sich zusammengefunden. Die von kommunistischen Wählern gewählten Stadtverordneten sind in der rechten Erkenntnis der Lage zur sozialdemokratischen Partei übergetreten. Sie werden ihre Mandate im Rahmen unserer Fraktion ausüben bis ihre Wahlperiode zu Ende ist. Sie tun es mit Recht, weil anders den Arbeitern die Stimmen bei entscheidenden Fragen fehlen würden. Machen sie zusammen auch keine Mehrheit aus, so wiegt doch die Entscheidung schwerer. Ihres Schrittes brauchen sich die Männer nicht zu schämen. Sie haben ihre Mandate bislang zum Nutzen der Arbeiterwähler ausgeübt. Sie werden das pflichtschuldigst auch weiter tun. Es ehrt sie nur, daß sie aus den gewon-nenen Erfahrungen die notwendigen Schlüsse und Konsequenzen gezogen haben. Diesen allen ist klar geworden im Kampfe um die Rechte und Ansprüche der Arbeiter, daß ein tönendes Wort die Tat allein nicht ausmacht, sondern nur das geschlossene Auftreten der Gruppe, die man glaubt langsam wieder in ihre vorkriegszeitliche Position zurückzudrän-gen. Es sind nicht immer die Klügsten, die von solchen Machtmitteln besessen sind, wohl aber die mit den Eigenschaften von Intriganten ausgerüsteten Personen. Gegen sie ist ei-ne besondere Abwehrstellung nötig, damit ihr Spiel entlarvt und den Arbeitern die Augen geöffnet werden können. Das kann aber nicht durch verewigte Arbeiterzersplitterung ge-schehen, die zum Weißbluten führen muß, sondern nur durch geschlossenes Auftreten und Handeln, wie ehedem, als die Arbeiter unter den Schlägen der Hungerpeitsche um den geringsten Anteil am Arbeitsertrag und um ein winzig Stück Mitbestimmungsrecht kämpf-ten. Um die am Orte erzielte geschlossene Vertretung der Arbeiter nach außenhin zu do-kumentieren, veröffentlichen wir nachstehende Erklärung.

„Die unterzeichneten, bisher in der KPD, organisierten Stadtverordneten, sind aus dieser ausgeschieden. Seit längerer Zeit bestanden Differenzen, die letzten Endes in einer Form ausgetragen wurden, die ein Verbleiben der Unterzeichneten in der KPD nicht mehr möglich machten. Das Ziel der Tätigkeit eines proletarischen Stadtverordneten soll und muß es sein, das Möglichste für die von ihm vertretenen Wähler zu erreichen. Die heuti-gen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind der Gestalt, daß sich nur durch ein taktisch richtiges Arbeiten ein Erfolg erzielen läßt. Durch phrasenreiches, rein agitatori-sches Wirken, wird kein realer Erfolg für die Arbeiterschaft errungen. Reaktion und Ka-pital bilden auch hier in Wernigerode eine geschlossene Kampffront. Einer verständigen Zusammenarbeit mit der sozialdemokratischen Stadtverordnetenfraktion ist es zu danken, daß mancher Erfolg für die Arbeiter erreicht werden konnte, der in anderen Kommunen, in denen die Fraktionen den Kampf gegeneinander führten und noch führen, nicht zu ver-buchen ist. Trotzdem das von unseren führenden Genossen anerkannt wurde, hat man uns in einer Art und Weise angegriffen, die ein weiteres Verbleiben in diesen Kreisen unmög-lich machen mußte. Wer den Interessen der gesamten Arbeiterschaft den Vorrang ein-räumt entgegen den reinen Parteiinteressen, hat keinen Platz in der KPD. Wer das Wort „Einheitsfront“ zur Tat werden lassen will, muß jenen Kreisen den Rücken kehren. Die bürgerliche Fraktion bildet die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung in Werni-gerode, daher ist jeder Kampf schwer zu führen. Die kommunistische Liste ist erschöpft. Würden wir unsere Mandate niederlegen, wäre jeder Kampf für die Interessen der Arbei-ter durch die erdrückene Mehrheit der bürgerlichen Fraktion von vornherein erfolglos. Obgleich man das weiß, verlangte die KPD unsere Mandatsniederlegung, weil die egoi-stischen Parteiinteressen es fordern. Einer solchen gewissenlosen Aufforderung konnten und werden wir keine Folge leisten. In und mit einer solchen Partei kann der Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse nicht geführt werden. Wir sind daher in die SPD zurück-getreten und werden in der sozialdemokratischen Stadtratsfraktion weiterhin unsere Mandatspflichten erfüllen. Unseren Klassengenossen aber rufen wir zu: „Prüfet, wo Ihr steht!“, stellt dem Bürgerblock eine geschlossene Arbeiterschaft entgegen, die sich nicht gegenseitig zerfleischt, sondern Schulter an Schulter den Kampf für die Befreiung der Ar-beiterklasse führt. Gez. August Schrader, Otto Gödecke , Walter Niemann.“

Wenn unter der vorstehenden Erklärung der Name des Stadtverordneten Oberbeck  fehlt, so hat das seine Ursache darin, daß er der Auffassung war, er müsse sein Mandat nach der parteipolitischen Umstellung an die KPD zurückgeben. Oberbeck wird auch zur SPD übertreten, beabsichtigt jedoch, sein Mandat nicht weiter auszuüben. Er hatte das auf Grund der Bestimmungen der Städteordnung durchaus nicht nötig. In dieser Hinsicht ist auch der gegenwärtige Sprecher der KPD, der hinlänglich bekannte Peiser auf ein an den Herrn Stadtverordnetenvorsteher Büchting gerichtetes Schreiben belehrt worden. … Wir haben der Aufforderung im Schlußsatz der Erklärung der ehemaligen kommunistischen Stadtverordneten nichts mehr hinzuzufügen als den Wunsch: Möchten alle denkenden Ar-beiter auch ihrerseits den rechten Schluß daraus ziehen!

In der Folge blieb die KPD im Vergleich zu anderen Orten in Wernigerode eine wenig bedeutende Splittergruppe.

Bei den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 konnte die SPD in Wernigerode mit über 40% der Stimmen ihr gutes Ergebnis vom Dezember 1924 bestätigen. Ganze 799 Stim-men wurden für NSDAP abgegeben. Nach der Wahl kam jedoch der Durchbruch der NSDAP in Wernigerode, als Pastor Münchmeyer aus Borkum im vollbesetzten Kurhaus-saal für die Nazis sprach. In der hiesigen Bevölkerung gab es einen großen Teil, der kon-fessionell gebunden war – nichtzuletzt auch unter der Arbeiterschaft gab es auch wegen der Bemühungen des Grafen-/Fürstenhauses, sozialdemokratische Ideen mit kostenlos verteilter religiöser Literatur zu bekämpfen, eine gewisse Offenheit gegenüber religiösen Würdenträgern. Dies nutzte nun die NSDAP aus.

Am 17.11.1929 fanden die letzten Kommunalwahlen statt, die man als „frei“ bezeichnen konnte. Die SPD fuhr hierbei einen großen Sieg ein: Elf Mandate konnten gewonnen wer-den durch Edmund Oberbeck, Otto Meinhardt, Hermann Lumme, Otto Kabelitz, Otto Go-edecke, Walter Niemann, Richard Bartels (der dann zum ehrenamtlichen Stadtrat gewählt wurde), Otto Finger (als Nachrücker für Richard Bartels), Friedrich Müller, Max Otto, Friedrich Kuring und Wilhelm Heitmüller. Mit 3971 Stimmen schlug man klar die NSDAP, die 2050 Stimmen und damit fünf Mandate errang. Stärker war sogar der rechte Block „Stadtwohl“, der 2433 Stimmen und sechs Mandate erringen konnte. Vierte Kraft im Wernigeröder Rathaus waren die Liberalen der Vereinigung „Bürgerblock“ mit 1517 Stimmen, was vier Mandaten entsprach. Die „Liste Nöschenrode“ (491 Stimmen) erhielt genau wie die KPD (442 Stimmen) einen Sitz.

Der Terror beginnt

Auch in Wernigerode begann mit der Machtübernahme Hitlers der Terror der Nazis. Am 24. Juni 1933 wurden über 80 sozialdemokratische Funktionäre aus Wernigerode und dem Kreisgebiet zur ehemaligen Maulschen Schokoladenfabrik, der damaligen SA-Führerschule, gebracht und dort schwer misshandelt. Bei der als „Schandmarsch“ in die Geschichte eingehenden Abscheulichkeit wurden die Sozialdemokraten durch die Stadt getrieben, darunter der langjährige 2. Bürgermeister und Gewerkschaftssekretär Hermann Reichardt, der Fraktionsvorsitzende der SPD Otto Goedecke, der Stadtverordnete, AOK- und Gewerkschaftsvorsitzende Max Otto und der Metall-Gewerkschafter Friedrich Kuring. Vorangehen musste der misshandelte Stadtrat Richard Bartels mit einem so genannten „Schandpfahl“, der die Aufschrift „SPD Lumpen Wernigerode“ trug. Erst nach schweren Prügelexzessen mit gebrochenen Rippen, ausgeschlagenen Zähnen u. ä. m. wurden die Sozialdemokraten wieder freigelassen.

Die „Wernigeröder Zeitung“ schrieb zynisch und verharmlosend am 26.6.1933: Im Rahmen der für das gesamte Gebiet des Reiches auf Anordnung des Reichsinnenministeriums verfügten Aktion gegen die SPD wurde auch in Wernigerode am Sonnabendnachmittag zu einschneidenden Maßnahmen gegen die hier ansässigen SPD-Funktionäre aus Wernigerode und aus dem Kreis geschritten. Von hiesigen SA- und SS-Formationen wurden am Sonnabend 81 SPD-Leute festgenommen, die, nachdem sie geschlossen durch die Stadt geführt worden waren, für die Dauer der Nacht in der SA-Führerschule in Schutzhaft gehalten wurden. Es ist, von geringen Ausnahmen abgesehen, zu Widerständen gegen die Inschutzhaftnahme nicht gekommen. Die inhaftierten SPD-Funktionäre wurden am Sonntagmittag wieder in Freiheit gesetzt bis auf sechs Mann, die als Schutzhäftlinge in das Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert wurden. Diese sechs Mann sind: Stadtrat a. D. W. Steigerwald, die ehemaligen Stadtverordneten W. Niemann und O. Goedecke, weiter der ehemalige Polizeiwachtmeister H. Ackert, Bäckermeister H. Randolff und Beckmann, El-bingerode. Ueber das weitere Schicksal der sechs in Schutzhaft Behaltenen werden wir zu gegebener Zeit berichten.

Die „gegebene Zeit“ war am 28.6.1933. Die Meldung lautete: Von den sechs am Sonntag in polizeiliche Schutzhaft genommenen SPD-Funktionären sind am Dienstag der Bäckermeister Randolff, der ehemalige Stadtverordnete Niemann und der ehemalige Polizeiwachtmeister Ackert wieder in Freiheit gesetzt wurden. Die drei anderen Inhaftierten befinden sich weiter in Schutzhaft.

Welche Folgen die „Verhaftung“ hatte, wird durch ein nachträgliches, am 4. März 1952 ausgestelltes ärztliches Attest des Herrn Dr. med. Herr für Walter Niemann deutlich : Am 22. Juni 1933  wurde ich zu Herrn Walter Niemann, damals wohnhaft Freiheit 1, gerufen. Herr Niemann lag im Bett und konnte sich nicht rühren. Über den ganzen Rücken vom Hinterkopf bis zu den Fersen war er mit schwarz-blauen Malen bedeckt, teilweise in Handgröße. Die Lendenwirbelsäule war angeschlagen und drei Rippen waren auf der rechten Seite angeknickt. Im Oberkiefer waren fünf Schneidezähne ausgeschlagen. Herr Niemann lag mehrere Tage zu Bett bis er verhaftet wurde. Nach seiner Haftentlassung war er noch mehrere Wochen wegen seiner Mißhandlungen arbeitsunfähig.

Auch Heinrich Matscheroth, seit 1920 bei der SPD, berichtete , dass er durch die Misshandlungen den Verlust des linken Unterkiefers zu beklagen hatte.

Bäckermeister Hermann Randolff, der als Aktivist im Reichsbanner den Nazis ein besonderer Dorn im Auge war, litt bis zu seinem Tod an den Folgen der Misshandlungen.

In einem abgeschriebenen Bericht eines Volksstimme-Artikels vom 22.10.1948 zur Gerichtsverhandlung über diese Vorkommnisse wird dargestellt, wie die Sozialdemokraten misshandelt wurden – und welche Strafen die Hauptbeschuldigten bekamen: „Vor der Großen Strafkammer nach Befehl 201 hatten sich der 47 Jahre alte Buchhalter Erich Göbel, der 49jährige Hilfsschleifer Georg Baetge, der 49 Jahre alte Landwirt Bernhard Müller, der 48 jährige Maurer Gustav Heise, der 43 Jahre alte Tischler Hugo Heise und der 38jährige Former Hans Vick aus Wernigerode wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten . Als es zu den allgemeinen Verhaftungen der Antifaschisten  in Wernigerode kam, wurden diese in das SA-Heim gebracht und unmenschlich geschlagen… Die Antifaschisten mußten, ehe sie in einen ehemaligen Maschinensaal kamen, durch einen engen Gang. Hier wurden sie wiedere furchtbar mißhandelt. Aus dem Maschinensaal wurden sie einzeln herausgerufen, in ein Vernehmungsyimmer geführt und wiederum geprügelt. Für alle Eingekerkerten wurde Exerzierdienst angesetzt. Es regnete hierbei Fußtritte und Schläge mit Ochsenziemern und Peitschen, wenn der Hitlergruß nicht vorschriftsmäßig ausgeführt wurde. Der Zeuge Schattenberg bekundete, daß, als er in den Saal kam, ihn der „Einäugige“, gemeint ist damit Göbel, der nur ein Auge besitzt, mit einem Knüppel schlug. Göbel riß dem Zeugen das Jackett vom Leib und fesselte ihn mit einer Kette. Der Zeuge wurde während der Mißhandlung ohnmächtig. Man begoß ihn solange mit kaltem Wasser, bis er wieder zu sich kam. Göbel steckte sich dann eine Zigarette an. Als diese in voller Glut war, steckte er das glühende Ende dem durch die Kette wehrlos gemachten Zeugen in die Nasenlöcher. In der SA-Führerschule wurde dem Zeugen ein Strick um den Hals gelegt und er an demselben dreimal in die Höhe gezogen. Anschließend wurde er derartig verprügelt, daß ihm die Haut in Streifen vom Rücken hing. Der Zeuge Goedecke kam mühsam auf Krücken in den Gerichtssaal und machte seine Aussagen. Bei den damaligen Misshandlungen hat man ihm die Nieren zerschlagen. Der Zeuge Freidank sagte aus, daß beim Exerzieren der Antifaschisten Randolff von der vertierten Horde abgesondert und in den Maschinensaal geschleift wurde. Als die anderen nach zwei Stunden den Saal betraten, sahen sie Randolff als blutige, leblose Masse in der Ecke liegen. Die Große Strafkammer unter dem Vorsitz des Landgerichtspräsidenten Lange verurteilte den Angeklagten Göbel als Haupttäter zu einer Zuchthausstrafe von 10 Jahren und 10 Jahren Ehrverlust. Der Angeklagte Baetge erhielt 4 Jahre, Müller 5 Jahre, die Gebrüder Heise je 2 Jahre und 6 Monate und der Angeklagte Vick 1 Jahr und 2 Monate Gefängnis. Es ist noch wichtig zu bemerken, daß Göbel alle Taten abstritt bis zuletzt. Erst am Schluß der Verhandlung gestand er zynisch seinen Sadismus ein. Auf sein Verhalten reagierte das Gericht entsprechend: Es rechnete ihm die Untersuchungshaft, die über 2 Jahre betrug, nicht an.

Besondere Verfolgungen hatte auch der sozialdemokratische „Volksstimme“-Redakteur Willy Steigerwald zu überstehen, zumal er auch noch jüdischen Glaubens war. Vom 11.11. – 21.11.1938 war Willy Steigerwald im KZ Buchenwald. Der immer größer werdende Druck auf ihn und seine Familie trieb ihn am 20.6.1941 in den Selbstmord.

Bis zum Ende der Nazizeit 1945 wurden jedoch noch weitere Wernigeröder Sozialdemokraten verfolgt : 1936 wurde Friedrich Kuring verhaftet durch den Chemnitzer Polizeibeamten und Spitzel Hauptwachtmeister Erwin Wilhelm und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wurde im März 1944 erneut Opfer einer Denunziation. Im Oktober beantragte der Staatsanwalt beim Volksgerichtshof die Todesstrafe wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat. Da der Belastungszeuge sich jedoch in erhebliche Widersprüche verwickelte, kam der 63jährige Kuring nach stundenlangen Verhandlungen mit fünf Jahren Zuchthaus davon.

1937 ereilte auch den schon 1933 verfolgten Max Otto das Schicksal der Denunziation. Der gelernte Schriftsetzer und engagierte Gewerkschafter hatte von 1924 bis 1933 den Vorsitz des Ortsausschusses des ADGB inne. Als auf einer Versammlung der DAF  am 15. Juni 1937 in Wernigerode der Gauobmann Knabe aus Magdeburg eine, wie Otto seinen Kollegen im Kartonagewerk gegenüber meinte, „an Dummheit nicht zu überbietende Rede“ hielt, gaben diese Kollegen seine Meinung sofort an die DAF weiter. Das Amtsgericht Wernigerode verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis, seine Arbeit verlor er auch.

Nach dem missglückten Attentat auf Hitler 1944 wurden u. a. verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen, Außenlager Magdeburg gesperrt: Walter Niemann, Richard Bartels, Hermann Reichardt und Edmund Oberbeck.