Die Situation für sozialdemokratische Ideen in der untergehenden DDR 1989 war durchaus vergleichbar mit der Situation der Sozialdemokratie am Ende des Sozialistengesetzes 100 Jahre zuvor. Es war verboten, politische Organisationen zu gründen, die den Machtanspruch der herrschenden Partei in Frage stellten. Waren es jedoch zu Zeiten des Kaisers vor allem gesellschaftskritische Gewerkschaften, die als “Fachvereine” firmierten und “Volksbildungsvereine” in denen – gerade auch politische – Bildung praktiziert wurde, fanden die Oppositionellen in der DDR vor allem unter dem Dach der evangelischen Kirche Zuflucht und konnten dort ihre politische Arbeit koordinieren. Dies war nicht ungewöhnlich, sind doch die sozialdemokratischen Urideale von Freiheit, Recht und Chancengleichheit auch christliche Werte. So bestanden während der gesamten DDR-Zeit kirchliche Gruppierungen, die sich kritisch mit der Gegenwart in dem halbstalinistischen System auseinandersetzen. Am Ende der DDR-Zeit kulminierte diese Kritik und schlug spätestens mit dem wachsenden Umweltbewusstsein Anfang der 80-er Jahre, der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986, den Verhaftungen von Dissidenten vor allem in Berlin, der befürwortenden Position der DDR-Regierung zur blutigen Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Peking und den gefälschten Wahlen 1989 in offene Systemkritik um. Dies galt auch für Wernigerode. Lange Zeit gab es den Friedenskreis, eine kirchliche Gruppe, die sich mit grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Fragen beschäftigte. Ihm gehörten u. a. auch die späteren Gründer der Sozialdemokratischen Partei in Wernigerode Siegfried Siegel (gleichzeitig erster Geschäftsführer der wiedergegründeten zunächst SDP heißenden Sozialdemokratischen Partei und später auch Ortsvereinsvorsitzender), Hans-Ulrich Werther, Klaus-Peter Buchmann (beide nach der Gründung des Ortsvereins dessen Sprecher) und Ludwig Hoffmann (seit 1994 SPD-Oberbürgermeister von Wernigerode) an. Insbesondere die theoretische Vorarbeit hinsichtlich der Gründung des “Neuen Forums” und der SDP auch in Wernigerode wurde im Friedenskreis, im seit im zweiten Drittel der 80-er Jahre gebildeten “Arbeitskreis für Menschenrechte in der DDR” im Pädagogisch-Theologischen Institut, aber auch z. B. in den Privatwohnungen wie der von Siegfried Siegel oder der des späteren stellvertretenden Bürgermeisters Klaus-Peter Buchmann geleistet. Doch auch eine weitere Parallele zur Situation 100 Jahre zuvor wurde 1989 deutlich: Gründete man in der Zeit des Sozialistengesetzes sozialdemokratisch beeinflusste Turn- und Gesangsvereine, waren es in der DDR vor allem Liedermacher und Bands, die in einer gleichgeschalteten Medienwelt als einzige ein größeres – und oft junges – Publikum mit gesellschaftskritischen Texten erreichen konnten. Dies wurde von den DDR-Machthabern schon früh als Bedrohung (neben der Beeinflussung durch “westliche Fernseh- und Radiosender) gesehen. Es gab deshalb die Praxis der “Auftrittserlaubnis”, die die Künstler erst nach dem Vorstellen ihres Programmes vor einer Kommission erhielten – oder auch nicht. Diese Erlaubnis konnte jederzeit widerrufen oder mit Auflagen versehen werden. Bands, von denen “Renft” Mitte der 70-er Jahre sicher die bekannteste war, wurden durch staatliche Maßnahmen aufgelöst, Musiker nach Gefängnisandrohung ins Ausland getrieben oder – wie 1976 Wolf Biermann – nicht wieder zurück in die DDR gelassen. Mitte der achtziger Jahre, als die Unzufriedenheit und die Perspektivlosigkeit junger Leute in der DDR stieg, formierten sich immer wieder und überall neue Bands und traten kritische Liedermacher auf, die ihre Aufrittserlaubnis zuvor durch ein extra für die “Einstufungskommission” abgeschwächtes – aber dann nie so dargebotenes – Programm erhielten. In Wernigerode gründeten 1986 der Dreher, spätere SPD-Mitbegründer und erste Juso-Vorsitzende Thomas Richardt und der Transportarbeiter und Liedermacher Ralf Mattern (später stellvertretender SPD-Ortsvereinsvorsitzender) mit den beiden Produktionsarbeitern Michael Fey und Manfred Niedung eine Band namens “Flexibel”, die mit den in den Texten von Mattern gestellten Forderungen nach Reise- und Meinungsfreiheit, nach einem – auch staatlich praktizierten – Umweltschutz und nach einer pluralistischen Demokratie unabhängig von den Kirchengruppen die gleichen Forderungen wie diese stellte. Natürlich hatten beide Gruppierungen mit den “Tücken” des Systems zu kämpfen: Das Überwachungssystem sorgte dafür, dass beispielsweise Ralf Mattern, nicht nur als Texter der Band, sondern als ein Kopf der von der Staatssicherheit so bezeichneten “Gruppe Grüne Alternative” mehrfach zur Staatssicherheit vorgeladen wurde, um dort mit Haftandrohungen konfrontiert zu werden, weiterhin befohlen wurde, neben zwei Spitzeln im Musik-Umfeld “weitere” Spitzel im “Arbeits-, Wohn-, und Freizeitbereich” einzusetzen, und seine Post kontrolliert wurde. Die Unterlagen von Siegfried Siegel sprechen von mehreren Spitzeln, die über ihn zu berichten hatten. Auch bei ihm waren Denunzianten in der Oppositionsgruppe eingesetzt. Angesichts der fehlenden Vernetzung (Telefone hatten Seltenheitswert) trafen die Kirchengruppe um die späteren Bündnisgrünen Peter Lehmann, Rainer Schulz und Andreas Heinrich sowie die bereits erwähnten späteren Sozialdemokraten und die durch Einberufungen von Unterstützern und Mitgliedern zur Armee dezimierte Gruppierung um die im Sommer 1989 durch Polizeiauflagen quasi verbotene Band erst im Herbst 1989 aufeinander – bei der Gründung des “Neuen Forums” in Wernigerode, die ursprünglich als Party für die Einrichtung einer – dringend nötigen – Umweltbibliothek konzipiert war, und bei der Mattern – als Liedermacher – unter dem Dach der Kirche auftreten sollte. Während also der Gründung der SPD in Wernigerode im Jahr 1900 vor allem gewerkschaftliche Aktivitäten voraus gingen, waren es 1989 Fragen der Menschenrechte, der Friedenspolitik, des Umweltschutzes und der fehlenden Perspektive für junge Menschen, die dann zur “Wende” und zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei führten. Bis die Partei jedoch endgültig in Wernigerode Anfang Januar 1990 gegründet wurde, führte der Weg über das “Neue Forum” – eine politische Vereinigung von Unzufriedenen, die schnell Massenzulauf bekam. Dies zeigte sich auch in Wernigerode: Am 19. September 1989 sollte durch einige Protagonisten der Wernigeröder Umweltschutzszene, wie Christina Schulz und ursprünglich auch dem dann allerdings im August über Ungarn nach Westdeutschland geflohenen Stefan Hilchenbach, in der “Kontaktlinse”, dem “Diensthaus” des Jugendpfarrers Karl-Heinz Nickschick am Oberpfarrkirchhof, ein Ableger der Berliner “Umweltbibliothek” eingeweiht werden. Durch die damalige Dynamik der gesellschaftlichen Krise in der DDR stand jetzt jedoch die Gründung des “Neuen Forums” an. Etwa ein Dutzend Leute hatte sich dort versammelt. Wie sich herausstellte, gab es zwei Fraktionen der Anwesenden: Eine, die unbedingt in die BRD ausreisen wollte und eine Gruppe – und das waren die Leute, die tatsächlich jahrelang unter persönlichen Risiken auf die “Wende” hingearbeitet hatten – die den Aufruf des “Neuen Forums” diskutierte und ihn zum Unterschreiben vorlegte. Man einigte sich darauf, sich jede Woche erneut zu treffen und bis dahin den Aufruf des “Neuen Forums” wie auch immer bekannt zu machen. Am 26. September – also eine Woche später – waren die Räume am Oberpfarrkirchhof schon fast überfüllt. Etwa doppelt soviel Leute wie beim ersten Mal wollten nun den Gründungsaufruf des “Neuen Forums” unterzeichnen. Eine Woche später, am 3. Oktober, dem Tag, an dem die Grenze zur CSSR geschlossen wurde, konnten die Räumlichkeiten am Oberpfarrkirchhof die interessierten Bürger nicht mehr fassen. Am 9. Oktober, nachdem die Demonstrationen in den Großstädten nicht zusammengeschossen wurden und auch in Wernigerode die Anhänger des “Neuen Forums”, die am 7. Oktober mit selbst gebastelten Stickern durch die Stadt spazierten, trotz “Beschattung” nicht verhaftet wurden, war eigentlich klar, dass Veränderungen nun schwerlich aufzuhalten waren. Als am 10. Oktober vor lauter Interessierten das Haus am Oberpfarrkirchhof kaum noch zu erreichen war, verabredete man sich am Mittwoch, dem 11. Oktober, ins Evangelische Altersheim “Harzfriede” im Mühlental, um im dortigen Saal diskutieren zu können. Es kamen allerdings soviel Menschen, dass auch der Saal im “Harzfriede” zu klein wurde. Im Vorfeld hatte jedoch die Polizei verlangt, dass es keinesfalls zu einer Kundgebung unter freiem Himmel kommen dürfe. So zog man dann – nach Absprache mit der Polizei – zur Kirche St. Johannis in die Pfarrstraße. Von der Polizei wurde die Auflage erteilt, nur den Fußweg zu benutzen, die Organisatoren um den – späteren Bündnisgrünen Aktivisten – Pfarrer Peter Lehmann “überrumpelten” die Polizei, in dem sie nicht die nahegelegenere Liebfrauenkirche sondern die entferntere St.-Johannis-Kirche (wo das spätere SPD-Mitglied Heinrich Hamel Pfarrer war) als neuen Treff vorschlugen – mit mehreren hundert Menschen wurde dieser “Umzug” zu einer – noch stillen – Demonstration durch die gesamte Innenstadt. Dort wurde dann auch offiziell das “Neue Forum” für Wernigerode gegründet. Kontaktadressen wurden verteilt. Von den mutigen 16 Bürgern, die auf der Kontaktliste Ansprechpartner der Bevölkerung mit samt ihren Adressen wurden, hat sich übrigens der Großteil später bei der SPD und den Bündnisgrünen politisch betätigt und organisiert. Auch die etwas Zurückhaltenden kamen (wieder dienstags) nun am 17. Oktober zur nächsten Zusammenkunft des “Neuen Forums”, die aus Platzgründen in der Sylvestriekirche stattfand. Am 24. Oktober traf man sich gleich in zwei Kirchen (Liebfrauen und St. Sylvestrie). Wie die “LDZ” schrieb “diskutierten Tausende Menschen die Probleme unserer weiteren gesellschaftlichen Entwicklung in der Sylvestrie- und der Liebfrauenkirche”. Im Anschluss daran kam es zu einer Demonstration zum Markt, bei der dann – wie die “Volksstimme”, das Organ der SED, seinerzeit bedauernd feststellte – durch die mitgebrachten Kerzen die neue Rathaustreppe “verschmutzt” wurde. Nach der Entmachtung Honeckers sahen sich auch die hiesigen Funktionäre gezwungen, auf die Dialogvorschläge des “Neuen Forums” einzugehen. So kam es dann auch zu einer Einladung seitens des Rates des Kreises in das damalige Kulturhaus in der Albert-Bartels-Straße und zu einer weiteren, gleichzeitig stattfindenden Veranstaltung durch den Rat der Stadt im Rathaus am 25. Oktober. Da mittlerweile hunderte Interessierte nicht im Saal des Kulturhauses Platz fanden, erklärte sich Pfarrer Schäfer bereit, für die Diskussion die größte Kirche der Stadt, die Liebfrauenkirche, erneut zu öffnen. Vor dem Altar sitzend hatten dann die sich stets besonders atheistisch gebenden Funktionäre der SED-Kreisleitung und des Rates des Kreises Gelegenheit, mit der Bevölkerung in die Diskussion zu treten. Dies war zugleich der Höhepunkt der basisdemokratischen Revolution in Wernigerode. Am 4. November fand eine große Demonstration durch die gesamte Stadt statt. Die etwa 4000 Menschen demonstrierten auch an der Kreisstelle des Ministeriums für Staatssicherheit in der Goethestraße, wo man besonders laut “Stasi in die Produktion” verlangte. Mit der Öffnung der Grenzen am 9. November endete die Revolution in den Kirchen und auf der Straße auch in Wernigerode. Einige Aktivisten beteiligten sich noch an installierten “Runden Tischen” auf Stadt- und Kreisebene, die jedoch spätestens mit der Kommunalwahl im Mai 1990 ihre Legitimation verloren.
Bereits kurz nach der Gründung der SDP in Schwante am 7. Oktober kam es auch in Wernigerode zu ersten Aktivitäten hinsichtlich einer Parteigründung. Herbert Schneider aus Halberstadt nahm unter anderem Kontakt mit Siegfried Siegel auf und brachte den Text “Bildung der Initiativgruppe SDP in der DDR” von Markus Meckel und Ibrahim Böhme mit. Als einer der ersten trat Siegel in die SDP ein. Das geschah, indem man auf einem Vordruck seinen Willen erklärte, Sozialdemokrat zu werden, diesen Vordruck dann Vertrauensleuten (in diesem Fall war das Herbert Schneider) mitgab, die diese Dokumente wiederum auf Bezirksebene sammelten.
In der damals herrschenden Aufbruchstimmung sind viele als Gründung apostrophierten Versammlungen von Interessierten letztlich folgenlos geblieben. Ein erstes Gespräch mit etwa einem Dutzend Bürger fand am 13.11.1989 in der ehemaligen Suptur des Kirchenkreises Wernigerode statt. Schließlich bildete sich eine Initiativgruppe mit Klaus-Peter Buchmann, Siegfried Siegel, Hans-Ulrich Werther und Klaus Fischer aus Elbingerode, die während des Novembers und Dezembers die Parteigründung vorbereitete und gleichzeitig die SDP an den Runden Tischen der Stadt und des Landkreises vertrat, sowie die Kontakte zu Markus Meckel in Niederndodeleben und Willi Polte in Magdeburg pflegte. Bei der Brockenöffnung am 3. Dezember wurde durch Siegfried Siegel Kontakt zum Ilsenburger Joachim Dähnn hergestellt. Mit einem Presseaufruf wurde dann am 19.12.1989 zur Gründungsversammlung in das Kreiskulturhaus in der Albert-Bartels-Straße aufgerufen und eingeladen. In einem vollbesetzten Saal scheiterte nach einem turbulenten Versammlungsverlauf der Gründungsversuch an unüberbrückbaren Differenzen der Diskutanten und offensichtlich gezielt destruktiven Beiträgen.
Im Dezember 1989 veröffentlichte die “Initiativgruppe der SDP Wernigerode” unter der Überschrift “Begriff mit Leben erfüllen” folgende Grundsatzerklärung: Warum nicht auch Massenbewegung in der Wirtschaft? Mit großer Sorge betrachten wir die sehr emotional geführte Diskussion über die Frage der deutschen Einheit. Wir erkennen die Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit unseres Volkes an. Damit sind künftige Optionen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung nicht ausgeschlossen. Aber sie können jetzt nicht handlungsorientierte politische Ziele sein. Mit der BRD verbinden uns eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Zugehörigkeit zu einer Nation. Dazu kommen millionenfache verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen. Doch eine fast 45jährige Nachkriegsgeschichte, die die beiden deutschen Staaten in feindliche Bündnisse gezogen hat, führte zu recht unterschiedlichen Entwicklungen, eingebettet in eine ganz bestimmte europäische Konstellation. Das läßt sich nicht einfach wegwischen. Von einem geeinten Deutschland sind zwei verheerende Weltkriege ausgegangen. Von daher lassen sich die Ängste unserer Nachbarn vor einem “Großdeutschland” ableiten. Selbstverständlich bekennen wir uns als Sozialdemokraten zur Einheit! Willi Brandt brachte es mit den Worten “Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!” auf den Punkt. Dies aber bedeutet auch, daß man einem solchen Prozeß eine Wachstumsphase einräumt, eine Zeit der Entwicklung zur Reife. Das Volk der DDR hat sich, im Gegensatz zur BRD, seine Freiheiten bitter erkämpfen müssen. Wir Sozialdemokraten meinen, daß diese erstrittenen Freiheiten durch einen schnellen Anschluß an die BRD nicht eilfertig verschenkt werden dürfen. So würde beispielsweise die sofortige Einführung der bundesdeutschen Marktwirtschaft große soziale Probleme für die DDR-Bevölkerung mit sich bringen. In der BRD gibt es gegenwärtig über zwei Millionen Arbeitslose und mehr als 500.000 Obdachlose. Der Zustand unserer Wirtschaft aber läßt vermuten, daß diese Zahlen bei uns um ein Vielfaches ansteigen würden. Wieder hätten die Massen des “einfachen Volkes” die Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik zu tragen. Hier ist zu fragen: Ist dafür in den letzten Wochen und Monaten demonstriert worden? Die SPD muß dies mit einem eindeutigen NEIN beantworten! Die Initiativgruppe der SDP in Wernigerode ist der Meinung, daß ein Volk, das seine unfähige Regierung aus dem Amt getrieben hat, auch in der Lage sein muß, die heruntergekommene Wirtschaft ohne derartige Opfer zu sanieren. Die politische Wende in der DDR wurde durch eine Massenbewegung herbeigeführt. Warum sollte eine Wende in der Wirtschaft auf diesem Wege unmöglich sein?! Die meisten Betriebe in unserem Land werden immer noch als Volkseigentum bezeichnet. Nach Ansicht der SDP gilt es jetzt, diesen Begriff durch die Phantasie aller Arbeitnehmer mit Leben zu erfüllen.
Am 2. Januar 1990 war es dann soweit – die Sozialdemokraten Wernigerodes schlossen sich nach fast 44 Jahren wieder offiziell und legal zu einer Organisation zusammen. Gründungsmitglieder der Wernigeröder SDP waren: Günther Hotopp, Ingolf Sallier, Michael Weber und Karl Bührig aus Darlingerode, Joachim Dähnn und Wilfried Obermüller aus Ilsenburg, Birgit Gehrke aus Drübeck und die Wernigeröder Klaus-Peter Buchmann, Hans-Ulrich Werther, Wolfgang Grothe, Edith Ackermann, Horst Ackermann, Thomas Richardt, Randolf Brückner, Siegfried Siegel und Uwe Lemke. Die Sozialdemokraten Hubert Jahns und Rüdiger Wollschläger aus Seesen standen der Gründung beratend zur Seite. Als Sprecher wurden Klaus-Peter Buchmann und Hans-Ulrich Werther, als Schatzmeisterin Birgit Gehrke und als Geschäftsführer – quasi kommissarischer Vorsitzender – wurde Siegfried Siegel gewählt und als verantwortlich für die verschiedenen Politikfelder bestimmt.
Am 9. Januar erschien in der “Volksstimme” unter der Überschrift “Anknüpfen an alte Traditionen” folgende Pressemitteilung: Am 2. Januar haben die Sozialdemokraten von Wernigerode ihren Ortsverband gegründet. Das Büro befindet sich im Gebäude der ehemaligen SED-Kreisleitung, Lindenallee 27. Wir Sozialdemokraten sind uns der Problematik, dieses Gebäude zu nutzen, bewußt; schon manches kritische Wort ist darüber geäußert worden. Aber um schnellstens arbeitsfähig zu werden, haben wir uns entschlossen, die im Zusammenhang mit der Wende freigelenkten Räume zu nutzen. Wir Sozialdemokraten wollen dazu beitragen, diesem Haus einen neuen Charakter zu verleihen. Wir rufen die Parteien auf, unserem Beispiel folgend, ebenfalls dort Räume zu beziehen. Nur so kann aus dem “Haus der Einheit” ein “Haus der Demokratie” werden. Hinzu kommt natürlich noch, daß der dringend benötigte Wohnraum im Stadtgebiet, der z. Z. von anderen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen blockiert wird, auf diesem Wege wieder Wohnraum würde. Die harztypische Lage des alten Kronprinzenpalais läßt es aber auch überlegenswert erscheinen, dieses Haus für eine noch bessere Nutzung (z. B. Ferien- oder Erholungsheim) völlig zu räumen. Wir Sozialdemokraten könnten uns vorstellen, gemeinsam mit allen anderen Parteien in das nicht voll ausgelastete Kreiskulturhaus oder in eine frei werdende Verwaltung umzuziehen. Leider verfügt die SDP Wernigerode noch nicht über einen eigenen Telefonanschluß und ist bis auf weiteres unter der Sammelnummer der SED-PDS 36351 zu erreichen. Wir hoffen aber bei der Gleichberechtigung aller Parteien und Gruppen im Wahlkampf, auch dieses Defizit bald als ausgeglichen melden zu können. Mit der Gründung des sozialdemokratischen Ortsverbandes knüpfen wir sehr bewußt an eine alte, über 125jährige Tradition der deutschen Sozialdemokratie an, deren Gründung einst in der weiteren Umgebung des Harzes stattfand. Seitdem ist die Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland von einem wechselvollen Auf und Ab gekennzeichnet. Da die “Volksstimme” die Zeitung der Sozialdemokraten im Land Sachsen-Anhalt gewesen ist, rechnen auch wir heute, im Blick auf die Wahl am 6. Mai, auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Redaktion. Wir hoffen, daß andere Gruppen, die nicht über eine eigene Zeitung verfügen, in der “Volksstimme” ein Sprachrohr finden, so daß ein fairer Kampf um die Gunst der Wähler möglich wird. Wir Sozialdemokraten wollen Interessenvertreter der Arbeiter und der werktätigen Bürgerinnen und Bürger in Stadt und Land sein. Durch die Wende sind viele Aufgaben und Probleme sichtbar geworden, die nur durch demokratische Parteien gelöst werden können. Als Ortsverband stehen wir hinter den Entscheidungen der Sozialdemokraten in der DDR und setzen uns dafür ein, daß Entscheidungen, die für die ganze Bevölkerung getroffen werden müssen, nur parlamentarisch durchgesetzt werden können. Für Hinweise, Kritiken, Informationen ist unser Büro zu folgenden Zeiten geöffnet: Montag, Mittwoch und Freitag jeweils von 16 bis 17.30 Uhr. Vorstand der SDP
Bereits auf der 2. Mitgliederversammlung am 10. Januar 1990 wurde beschlossen, “einen Schaukasten am Busbahnhof Westernstraße zu installieren, und sich nicht mehr an Montagsdemos zu beteiligen”. Außerdem wurde ein Kreisverband gegründet. Der Wernigeröder Ortsverein blieb lange Zeit der treibende Part im Kreis.
Anfang Januar bekamen die Wernigeröder Genossen Post aus Magdeburg. Ein bezeichnendes Angebot dokumentierte ein Schreiben des Kreisverbandes der Jungen Union aus Wernigerodes Partnerstadt Neustadt an der Weinstraße vom 22.12.1989, welches zunächst an den Magdeburger SPD-Mitbegründer Willi Polte gerichtet, aber dann von Willi Polte nach Wernigerode weitergeleitet wurde, in dem die Nachwuchsorganisation der West-CDU der SDP Hilfe und Unterstützung anbot, um “das Herrschaftswissen und das Meinungsmonopol der SED zu brechen”. Offensichtlich war für die westdeutschen Christdemokraten die ostdeutsche CDU wegen deren Verstrickung mit der SED (noch) kein potenzieller Bündnispartner.